Nach dem Kapitel “Die Kirche auf dem Zug nach Westen” folgt heute das zweite Kapitel aus dem Abschnitt „Die Kirche und die römische Staatsgewalt“ aus dem Buch “Geschichte der Kirche Christi” von DDr. Johannes Schuck aus dem Jahr 1938 (Echter Verlag):
Der Geist ist an sich unsichtbar; aber er wird sichtbar in den Werken, die er schafft, in den Zielen, nach denen er ausschaut, kurz in allem, wonach er sich richtet, woran er hängt, worüber er sich freut und worunter er leidet. Darum ist der römische Geist auch heute noch zu erkennen; wir wissen und kennen ja, was er schuf und verbrannte, was er liebte und haßte.
Wie notwendig uns die Kenntnis des römischen Geistes ist, geht aus der Tatsache hervor, daß Rom Mittelpunkt des Reiches Christi und Sitz des sichtbaren Stellvertreters Jesu Christi wurde. Das konnte nicht geschehen, ohne daß die Kirche in enge Berührung mit dem römischen Wesen kam. Dabei fand sie von der einen Seite dieses Wesens her eine Förderung, von der anderen Seite des nämlichen Wesens her drohte ihr ein Kampf auf Leben und Tod.
Der römische Geist blieb sich zwar nicht immer vollkommen gleich. In der Holz- und Backsteinstadt Rom war er natürlich nicht der nämliche wie in der späteren Marmorstadt. Dennoch sind in der Entwicklung des römischen Reiches einige große durchlaufende Züge erkennbar. Sie werden umso deutlicher, je öfter und aufmerksamer wir dabei auf andere Völker, besonders auf die Griechen schauen. Diese Züge seien kurz zusammengefaßt und vorangestellt: Rom hatte erstens viel Sinn für die greifbare Wirklichkeit und ihre Ausnützung; zweitens viel Sinn für den Staat, seine Macht und Einheit; und drittens viel Sinn für das Recht und die gesetzliche Regelung der menschlichen Verhältnisse.
Rom grübelte nicht. Rom bohrte nicht nach den tiefsten und legten Ursprüngen der Dinge und erhob sich auch nicht leicht und begeistert über die Dinge hinauf in dichterische Höhen. Rom blieb mehr auf dem Boden. Die fruchtbare Furche war ihm lieber als der Brunnen gelehrter Weisheit. Das Schwert, womit es sich Gassen in die Feinde schlug, war ihm lieber als die klingende Leier. Selbst als in der späteren Zeit die Dichtkunst in Rom einzog, fand sie hier niemals ein so allgemeines und festes Heimatrecht wie in Griechenland und das gewöhnliche Volk, weniger für kunstvolle Form als für sinnenreizenden Inhalt aufgeschlossen, fand allzeit seinen größten Gefallen an äußerem Schaugepränge, an Wettkämpfen und Seiltänzern. Wenn das alte Rom Lorbeeren verteilte, so bekränzte es vor allem Kriegstaten, Mut und Opfer für das Vaterland. Wenn Rom Denkmäler schuf, so waren es in alter Zeit meistens Bauwerke, die nicht bloß rühmender Erinnerung, sondern auch dem allgemeinen Nutzen dienten; es waren z. B. Wasserleitungen und Heerstraßen. Schon ein Grieche jener Zeit bezeichnet den Unterschied zwischen dem Städtebau seiner Heimat und dem Städtebau im römischen Reich mit den Worten: „Die Römer haben mit klugem, verständigem Sinn zu den natürlichen Vorteilen, welche die Lage ihrer Stadt gewährt, auch andere hinzugefügt. Der Grieche glaubt bei Städteanlagen alles getan zu haben, wenn er eine fruchtbare Gegend und einen guten Hafen ausfindig gemacht und dann seine Stadt mit schönen Gebäuden geschmückt und mit tüchtigen Festungswerken versehen hat. Der Römer aber denkt bei seinen Städten mehr an das, was der Grieche versäumt; er pflastert die Straßen, er legt Wasserleitungen an und baut Kanäle, durch welche der Unrat weggeführt wird. Auch die Landstraßen bauen die Römer ohne Rücksicht auf Mühe und Kosten so dauerhaft und zweckmäßig, daß sie dazu selbst ganze Hügel abtragen und Abgründe mit Erde ausfüllen.”
Bestes Zeugnis und Beispiel hierfür ist die berühmte Appische Straße, die im Jahre 312 v. Chr. begonnen, Rom und Capua verband. Sie war so breit, daß zwei Wagen bequem einander ausweichen konnten und lag auf einem fest gemauerten Unterbau auf Steinen, die ein bis zwei Meter im Geviert hatten, nach Lineal und Winkelmaß gemessen und so genau zusammengefügt waren, daß man kaum die Fugen bemerkte. Es fehlten nicht die Meilenzeiger und Herbergen, auch nicht die Steine, auf die man treten konnte, um bequem das Pferd zu besteigen.
Was also der echte Römer suchte, war der Nutzen und zwar der Nutzen für die Gemeinschaft. Der römische Wirklichkeitssinn war Staatssinn, so sehr, daß sogar die Religion nur eine Dienerin des Staates wurde. Ein Volk mit so ausgeprägtem Staatssinn war natürlich nicht bloß auf die Bewahrung und Pflege seines staatlichen Bestandes, sondern auch auf die Ausbreitung seiner staatlichen Macht bedacht und setzte alles daran, zu einer beherrschenden Weltmacht zu werden. Wie gut das Rom gelang, zeigt ein Blick auf eine Karte des Römerreiches zur Zeit seiner größten Ausdehnung, etwa fünfundachtzig Jahre nach dem Tod Christi; es umfaßte damals ein Gebiet ungefähr so groß, wie das europäische Rußland im Jahre 1914 war.
Obwohl nun dieses Gebiet des römischen Reiches über drei Erdteile zerstreut lag und Menschen ganz verschiedener Rassen, mit ganz verschiedenen Kulturen und Sprachen in sich schloß, wurde er durch die staatsmännische Fähigkeit Roms zu einer festen Einheit zusammengeschmiedet. Die Einheit zeigte sich vor allem in einer großen Gleichförmigkeit der Wohnungs- und Lebensformen, des Straßenbaues und der Bodenbewirtschaftung und auch der Sprache. Gerade durch die sprachliche Einheit wurde die Ausbreitung des Evangeliums wesentlich erleichtert und gefördert. Dabei ist freilich zu beachten, daß neben der lateinischen Amts- und Verkehrssprache in den ehemals griechischen Gebieten und darüber hinaus auch die griechische Sprache ebenbürtig weiterlebte. Um die Einheit des weitausgedehnten Verkehrs- und Wirtschaftsgebietes herzustellen, bedurfte es neben der Möglichkeit sprachlicher Verständigung noch eines weiteren Bandes, nämlich eines gut ausgebauten Straßennetzes. Das vorzügliche Straßennetz des römischen Reiches sorgte nicht bloß für dessen eigene Einheit und Ausbreitung, es war damit auch vorgesorgt für die leichte Ausbreitung und einheitliche Verwaltung des Reiches Gottes.
Einer Eigenart des römischen Geistes muß noch gedacht werden; an letzter Stelle, nicht weil sie von geringerer Bedeutung gewesen wäre, sie war im Gegenteil eine Voraussetzung für die einheitliche Verwaltung und überhaupt für den Bestand des Riesenreiches; es war der Sinn für das Recht, es war der Trieb und die Fähigkeit, die menschlichen Verhältnisse durch feste Rechtsbestimmungen allgemeingültig und dauernd zu ordnen. Das Römische Recht lebte und gab noch Leben, als das römische Schwert schon lange rostig und zerbrochen bei den Sehenswürdigkeiten der vergangenen Jahrhunderte lag. Nun ist für jede Gemeinschaft das Recht eine Lebensnotwendigkeit. Das Recht klärt und gliedert, das Recht verbindet und festigt, das Recht trägt und verbürgt Bestand. Schon mehr als einmal sah die Geschichte das Werk eines großen Herrschers rasch verschwinden, weil es nicht durch Verfassung und Gesetz verankert war. Also bedurfte auch die Gemeinschaft der Kirche des menschlichen Rechtes, umso mehr, als sie eine Gemeinschaft für alle Menschen und alle Zeiten sein sollte. Zur Schaffung und Entwicklung ihres Rechtes hätte die Kirche keinen besseren Boden finden können als Rom, keinen besseren Lehrer als den in der römischen Rechtsschule gebildeten Geist.
Sogar das Römische Recht selbst, als dessen stärkste Quelle man die Fassung und Zusammenfassung der im Römerreich entstandenen Rechtsbestimmungen durch den Kaiser Justinian versteht, wurde der Kirche bei der Sicherung und Ordnung ihrer Verhältnisse eine wertvolle Hilfe. Die Kirche trug freilich keineswegs die Schuld daran, daß die noch weniger entwickelten Volksrechte durch das Römische Recht lange Zeit zurückgedrängt wurden. Hier ist auch weniger das Römische Recht als die römische Anlage zur Rechtsbildung gemeint.
Dürfen wir es wagen, den Absichten Gottes bei der Führung seines Volkes nachzuspüren — und das dürfen wir wohl, sollen wir sogar, weil Gott ja seine Spur dazu in der Welt zurückläßt, damit wir, sie ins Auge fassend, zu ihm hinfinden — dann kann es uns nicht entgehen, warum Jesus das ägyptische Alexandria im Süden und das syrische Antiochia im Norden liegen ließ und sich geradeaus nach Westen wandte, warum der Engel den heiligen Paulus aus dem Gefängnis führte und der Hirtenstab des Apostelfürsten nicht endgültig in Antiochia stehen blieb, warum der Völkerapostel nicht unter den Steinwürfen vor der Stadt Lystra starb und nicht unter der Wut der Juden in Jerusalem und nicht am Schlangenbiß auf der Insel Malta die weit und schlank hervorspringende Apenninenhalbinsel Italien sollte eben das Evangelium auffangen, um über die Alpen zu leiten und nach Westen weiter zu geben; die Hirten des Reiches Gottes sollten bei den im weltlichen Walten erfahrenen Meistern Roms in die Schule gehen und für die Lösung ihrer Aufgabe nach der irdischen Seite hin die besten Kräfte aus der Schule des römischen Geiltet herüberholen.
Jedoch — Rom war nicht bloß Geist.
Fortsetzung folgt mit dem Kap. “Die sittlichen Schäden des römischen Reiches zur Zeit Christi“.
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